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Die Angst vor Mangel und das innere Kind

Artikel für das Kundalini Yoga Journal, März 2023

 


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Mach ein Experiment mir. Lehn dich zurück, atme tief ein und frage dich:

Wer bin ich, wenn ich alles habe, was ich brauche?

 

Ja, ich weiß, du willst jetzt weiterlesen und machst das dann später, fair enough, aber versprochen? Diese Frage sprang mich regelrecht an aus dem Lied „Begin Again“ von der wunderbaren Gruppe LVDY (Album The Woods):

„Who am I when I am not seeking? When I got everything I need within my reaching?”

 

Also, vielleicht magst du das Experiment doch jetzt gleich machen? Schließe 20 Sekunden kurz die

Augen, lass den inneren Zustand entstehen, diese Phantasie, alle Bedürfnisse erfüllt zu haben…. …

19…20.. Leicht? Schwer?

Das könnte etwas über dich aussagen. Vielleicht sagt es etwas über deinen Allgemeinzustand in Bezug auf Zufriedenheit. Vielleicht sagt es etwas über Genuss- und Freudfähigkeit, deinen Optimismus. Vielleicht sagt es etwas über deine Bedürftigkeit, deinen Perfektionismus, der immer Verbesserungsmöglichkeiten sieht, deinen Selbstoptimierungsdruck, deine Verunsicherung, deine Verlust- und Todesängste, deine Angst vor Mangel.

 

„Die ‚Generation Mitte‘ ist durch die aktuellen Krisen und deren wirtschaftliche Folgen stärker verunsichert als durch die Corona-Pandemie“, sagt Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Im Auftrag der Versicherer befragt das Institut für Demoskopie Allensbach jedes Jahr die 30- bis 59-jährigen Menschen in Deutschland. Grassierende Angst vor Mangel: „Zu wenig“ Zinsen, Gas, Zuwendung, Wertschätzung, Quality time etc. Mangel ist immer subjektiv und hängt von den Zielen bzw. Erwartungen ab. Für einen Fastenden ist es kein Problem, wenn das Teller leer ist. Für den Skibegeisterten ist es kein Mangel, wenn die Sonne tagelang nicht scheint und stattdessen dicke Schneeflocken kommen. Diese subjektive Bewertung hängt also von unserem Inneren

ab, von unserer Zielsetzung, die uns oft nicht bewusst ist. Diese unbewussten inneren

Bedeutungsgebungen, die in neuronalen Mustern zusammen eine „Spur im Gehirn“ bilden, nennen wir behelfshalber innere Anteile, darunter „den Perfektionisten“ und das „innere Kind“.

 

Stephanie Stahl hat in ihrem Bestseller „Das Kind in dir muss Heimat finden“ für viele sehr anschaulich beschrieben, was wir in der Psychotherapie schon seit Dekaden als Therapietool verwenden: Eine Verbildlichung dieser inneren „Geisteströmungen“, wie Patanjali dies vielleicht nennen würde in Sutra 1.1-1.3.


Mir im therapeutischen Kontext oft begegnende mental-emotionale Muster sind:

„Ich bekomme nicht, was ich brauche“. „Ich kriege nicht genug.“, damit ganz eng verwoben:

„Ich bin nicht genug“ oder „Ich genüge nicht, ich bin wertlos. (Stephanie Stahl, in ihrer Beschreibung des Schattenkindes). Demgegenüber stellt sie das Sonnenkind, das Freude, Stärke, Sicherheit, Offenheit, Neugier etc. verkörpert. Dies ist natürlich ein Konstrukt. Es gibt weder das eine noch das andere in Reinform, aber es ist eine hilfreiche Analogie und Verbildlichung. Meiner Erfahrung nach gibt es ein sehr mannigfaltiges Spektrum aller möglichen Kombination dieser inneren Anteile, ebenso mannigfaltig wie jede Persönlichkeit und deren Erfahrungen.

Shapiro benennt „Erwachsenanteile“ als nährende Anteile, die entscheiden, abgrenzen, schützen können und den „spirituellen Anteil“ als ressourcenreiche Ego-States, die in der Therapie eine große Rolle spielen, und dem „inneren Kind“ Halt geben. Das innere Kind kann folgende Qualitäten haben:

kreativ, verspielt, grenzenlos, ohne Regeln

bedürftig, hungrig,

verletzt, schutzlos, hilflos, ängstlich, trotzig

 

Angst vor Mangel kann also als ein Ich-Zustand gesehen werden, ist ein Konglomerat von Gedanken, Emotionen und Reaktionen des hilflosen, bedürftigen inneren Kindes. Ob dieser Ich -Zustand der aktuellen Situation gerecht wird, gilt es immer wieder zu prüfen. Meist nicht.

 

Als automatisierte „neuronale cluster“ spulen sie sich aber in uns ab, oftmals unbewusst, schneller als ein Reflex. Wir versuchen (auch nicht bewusst) alles, um nicht in dieses Gefühl kommen zu müssen, und entwickeln kompensatorische Verhaltensmuster. Angst vor Mangel, nein, schnell buchen, damit der Platz nicht weg ist, schnell horten, damit Vorräte im Haus sind, schnell was unternehmen, da jetzt die Sonne scheint und es tagelang nicht tun könnte. Dieser Ich-Anteil kann viel Stress machen, aber auch die stabilisierende Illusion schaffen, Sicherheit durch Materielles zu erlangen, aber gelingt es?


Der Yogi/Die Yogini in uns ist aus der Sicht der Ich-Anteile gesehen eine ressourcenreiche Ich-

Instanz, die Schutz, Halt und positive Erfahrungen liefert und so das gestresste innere Kind beruhigen kann. In anderen Worten: Angst.

 

„Woraus besteht Angst? Angst besteht aus Unwissenheit, daraus, dass man sich selbst nicht kennt. Es gibt nur eine Angst. Sie manifestiert sich auf viele Arten. Tausendfach kann sie sich manifestieren. Aber im Prinzip gibt es nur eine Angst: Tief innen bin ich vielleicht gar nicht,” Und in gewisser Weise stimmt es. Du bist nicht.“ (Osho)

 

Diese existentielle Angst, nicht zu sein heißt: Nicht-Existenz als Maximal-Mangel. Atme aus, atme dich leer. Bist du noch da? Wer bist du in der Atemleere? Wer bist du jenseits der Angst?

Sei tapfer, schau hin.

 

Literatur:

Osho, Emotionen, Goldmann, 2000

Stahl, S., Das Kind in dir muss Heimat finden, Kailash, 2015

Shapiro, R., Ego-State Interventionen, G.P. Probst Verlag, 2020

Skuban, R., Patanjali´s Yogasutra arkana 2011

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„Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der dauernd sich verändernden mentalen Muster. Dann ruht der Seher in sich selbst. Dies ist Selbstverwirklichung.“ Patanjali

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