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Vergebung ist Yoga des Herzens

Was findest du inakzeptable - gerade? Was fällt dir dazu spontan ein? Die Zahnpastatube, der Nachbar, die Stadtverwaltung…, etwas im privaten Bereich? Mir fallen sogar Dinge in unserer 3HO Community ein… z.B. die Art, wie wir uns immer noch im Weissen

Tantra von einem “gefallenen Meister” groß auf der Leinwand instruieren lassen. Vielleicht findest du es inakzeptabel, dass ich so frech schreibe. Dann haben wir etwas gefunden. Es dürfte aber generell nicht schwierig sein, etwas Inakzeptables, Intolerierbares zu finden, man muss nur die Nachrichten einschalten. 

Vergeben ist im Yoga eng verbunden mit der von Patañjali hochgepriesenen Vairāgya (Leidenschaftslosigkeit, Loslösung), Sutra I.15: 

"Dr̥ṣṭānuśravika-viṣaya-vitṛṣṇasya vaśīkāra-saṁjñā vairāgyam." Übersetzung nach R. Skuban: 

Los-Gelöstheit ist ein Zustand, in dem völlige Wunschlosigkeit erreicht ist in Bezug auf Gesehenes und Gehörtes,selbst im Blick auf das, wasin den Schriften vermittelt wird. 

Vergeben heißt für mich: 

Einen fixen, inneren Standpunkt zu verlassen.

Aufzuhören, aus der engen Perspektive des 

Schmerzes 

Der Entrüstung 

Ungehaltenheit 

Verachtung 

Intoleranz 

Angst vor Verletzung 

Scham 

Wut 

hinauszublicken auf die Taten, die nicht ok waren. 

Anzufangen, die Sicht zuzulassen, dass der andere ein fehlerhaftes, menschliches Wesen ist - und ES ist ok. 

Anzunehmen, dass wir alle Fehler machen, dass wir alle auf unsere Art und Weise unser Bestes geben- und ES ist ok. 

Akzeptieren, dass es weh tut, dass Enttäuschung da ist, Wut, Rage - und ES ist ok. Und dann den nächsten Schritt gehen: Nicht mehr nach hinten schauen mit Groll, sondern nach vorne: 

Den Rucksack ablegen, in dem die Steine des “Verbrechers” liegen. Dieser Rucksack ist nicht deiner. 

Geh ohne ihn weiter. 

Zu vergeben bedeutet nicht zu vergessen. Zu vergeben bedeutet, keinerlei Bitterkeit in dir zu tragen, denn diese zerstört dein Leben.“ Sadhguru 

Martin E. P. Seligman gilt als „Vater der Positiven Psychologie“ und machte das Fachgebiet durch seine Forschung zu Glück und Wohlbefinden international bekannt. Für mein großes Vorbild, den Begründer der Gesprächspsychotherapie, Carl Rogers (streng genommen ein humanistischer Psychologe, die der positiven Psychologie vorausging) bildet den Kern der Vergebung die Selbstvergebung und Selbstakzeptanz: 

„Das paradoxe an der Selbstakzeptanz ist: Wenn ich mich so akzeptiere, wie ich bin, dann kann ich mich verändern.“ 

Mihály Csíkszentmihályi, Mitbegründer der positiven Psychologie, untersuchte wissenschaftlich, was das Leben lebenswert macht – wie Glück, Resilienz, Sinn, Dankbarkeit und eben auch Vergebung, das Loslassen negativer Emotionen. In der positiven Psychologie gilt Akzeptanz und Vergebung als eine sehr wirkungsvolle Strategie zur Förderung von Wohlbefinden und seelischer Gesundheit. 

„Forgiveness is for you and notfor the offender. Forgiving does not mean condoning or forgetting. It means choosing peace over bitterness.“ 

Dr. Fred Luskin, Vergebungsforscher an der Stanford University: 

Seine Studien, aber auch die Metastudie wie Forgiveness Therapy for the Promotion of Mental Well-Being: A Systematic Review and Meta-Analysis. Trauma Violence Abuse. belegen, dass Menschen, die vergeben können, weniger unter Stress, Angst und Depressionen leiden und erfülltere Beziehungen führen. Vergebung bedeutet dabei nicht, Unrecht zu entschuldigen oder zu vergessen, sondern sich bewusst von der Last

der Kränkung zu befreien. Es ist ein Akt der Selbstliebe und Selbstermächtigung. Vergebung entschuldigt nicht Fehler. Sie verhindert, dass das Unrecht dein Herz zerstört. Die Positive Psychologie glaubt an das Potential der Transformation dieser Interpretation. 

Vergebendes “Interpretieren” geht nur im Herzen, wenn die Logik der Gerechtigkeit pausiert werden kann. Geh in den Herzraum. Schmerz braucht immer einen, der Schmerz erlebt. Der Herzraum ist unberührt, jenseits von Schmerz, er ist im “Sat Nam”. Jedes Sat Nam” kann auch heissen: “Ich vergebe mir und anderen”. Vergeben kann geschehen, auch wenn ich etwas ablehne. 

„Jenseits von richtig und falsch liegt ein Feld. Dort werde ich dir 

begegnen.“ 

Rumi (Jalal al-Din Muhammad Rumi) 

Natürlich war es nicht tolerierbar, was geschehen ist. Natürlich war es schlimm. Es soll nie wieder passieren. Auf keinen Fall! Aber muss der Blick immer wieder darauf gerichtet werden? Muss die Tönung der Wahrnehmung wirklich negativ, katastrophisierend und erneute Verletzungen erwartend sein? 

Nichttolerieren heisst nicht: Nicht akzeptieren. Vergeben hat etwas mit radikaler Akzeptanz zu tun. 

Die Liebe des präsenten, mutigen Herzens kann radikal akzeptieren. Die Liebe siegt über die mentalen Schmerzkrämpfe und -kämpfe. Sie ist die stärkste Kraft des menschlichen Erlebens. Sie verbindet, heilt, inspiriert und lässt uns wachsen. Doch Liebe ist kein immerwährender Zustand reiner Glückseligkeit – sie wird im Alltag immer wieder auf die Probe gestellt. Verletzungen, Missverständnisse und Enttäuschungen gehören zum Menschsein. Die positive Psychologie zeigt: Der Schlüssel, damit Liebe nicht an diesen Hindernissen zerbricht, sondern daran reift, ist die Vergebung. 

In letzter Zeit kommen viele Paare zu mir in die Therapie. Paare, die kurz vor, in oder nach der Trennung sind. Es kommt mir so vor, als ob sie auf ihre Art mit dem Vergeben ringen. Gerade in engen Beziehungen ist Vergebung unerlässlich. Ohne sie bleiben alte Wunden offen und blockieren die Liebe. Wenn es nicht gelingt, den Raum der Liebe neu zu betreten, dann kommt es zur Trennung in den Liebesbeziehungen, die sich dereinst als unzertrennbar anfühlten. Vergebung schafft Raum für Mitgefühl, Verständnis und erneutes Vertrauen. 

Yogi Bhajan sagte „Die größte Kraft in dir ist die Fähigkeit zu vergeben. Wenn du irgendetwas verschenken willst, dann schenke Vergebung.“ 

Vergebung nicht nur ein Geschenk an den anderen, sondern ein Akt der inneren Freiheit. Wer vergibt, löst sich von der Vergangenheit und öffnet sich für das Hier und Jetzt – das ist die Voraussetzung für echte Liebe. Wer vergibt, entscheidet sich bewusst für Liebe statt für Bitterkeit. Und so übe auch ich mich darin in Bezug auf den

brillianten Meister, der uns selbst durch die Wirren nach seinem Tod eine Lern- und Vergebungsaufgabe des Viveka (Übung zu unterschieden) und Vairagya mitgegeben hat. 

In Elif Shafaks Roman The Forty Rules of Love steht die transformative Kraft der Liebe im Mittelpunkt. Die Geschichte von Rumi und Shams zeigt, dass Liebe immer auch Vergebung bedeutet – sich selbst und anderen gegenüber. Hier ein kleine Geschichte dazu: 

Ein Mann war oft zornig und verletzte mitseinen Worten seine Mitmenschen. Sein Vater gab ihm einen Sack voller Nägel und sagte ihm, jedes Mal, wenn er die Beherrschung verliere,solle er einen Nagel in den Gartenzaun schlagen. Anfangsschlug der Sohn viele Nägel ein, doch mit 

der Zeit lernte er,sich zu beherrschen, und es wurden weniger. Schließlich kam der Tag, an dem er keine Nägel mehr einschlagen musste. Da sagte der Vater: „Jetzt ziehe für jedes Mal, wenn du dich beherrschst und dich bei jemandem entschuldigst oder vergibst, einen Nagel wieder heraus.“ Als alle Nägel entfernt waren, zeigte der Vater auf die Löcher im Zaun und sagte: „Siehst du, die Narben bleiben. Vergebung hilft, aber Spuren bleiben zurück. Darum ist es besser, erst gar nicht zu verletzen – und wenn es doch geschieht, zu vergeben und um Vergebung zu bitten.“ 

Die Vergangenheit ist eine Interpretation. 

“Forgiveness is the release of all hope for a better past”. Seligman 

Fazit: Liebe als Weg und Ziel 

Vergebung ist der Schlüssel, der die Tür des Herzens öffnet. Sie ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke und Reife. Wer vergibt, entscheidet sich für die Liebe – zu sich selbst und zu anderen. Die positive Psychologie und spirituelle Weisheit sind sich einig: Liebe wächst, wo Vergebung möglich ist. Sie heilt, was verletzt wurde, und lässt uns immer wieder neu beginnen. 

So wird Liebe nicht nur zum Ziel, sondern zum Weg – und am Ende siegt die Liebe immer dort, wo wir bereit sind, zu vergeben.


ree

Renate Heiss Tiaga Seva Kaur ist Kundalini Yoga-Lehrerin nach 3HO, Diplom-Psychologin und Heilpraktikerin auf dem Gebiet der Psychotherapie. Sie ist Psychosomatikerin und Yogapsychotherapeutin, arbeitet mit der therapeutischen Anwendung von Yoga in der Psychotherapie, worüber sie gerade ein Buch schreibt. Sie ist leidenschaftliche Gruppenpsychotherapeutin und verbindet auch dort westliche Psychologie, Tantra und Sufismus, den sie bei einem Meister 15 Jahre lang studierte. 



Quellen: 

Akhtar S, Barlow J. Forgiveness Therapy for the Promotion of Mental Well-Being: A Systematic Review and Meta-Analysis. Trauma Violence Abuse. 2018 Jan;19(1):107-122. doi: 10.1177/1524838016637079. Epub 2016 Mar 23. PMID: 27009829. 

Carl Rogers, Wege der Selbstverwirklichung 

Seligman, Authentic Happiness

Elie Shafak, Forty Rules of Love


 
 
 

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