Weniger ist mehr (Kundalini Yoga Journal Dezember 2023)
Digitale Inflation - Yoga Inflation
Von Tiaga Seva Kaur Renate Heiss
Was gerade in der Welt geschieht … ich weiß es nicht. Ich lese und höre Nachrichten, aber weiß ich, was gerade wirklich in der Welt geschieht? Ich höre meinen Patient*innen zu, sie erzählen mir von Mobbing am Arbeitsplatz, von Lieferschwierigkeiten, Personalknappheit und Sprachproblemen mit Kolleg*innen. Sie klagen über große Ängste, Burn-Out, Sinnkrisen, Süchte, Einsamkeit, Depression, Stress, Druck. Was genau wandelt sich?
Eine Frage – viele Antworten
Ich machte mich im September auf den Weg (mit Zug und Fahrrad), um es herauszufinden. Ich fragte einen Soziologen, der sich große Sorgen über die Einwanderungspolitik macht und meint, dass die Integration aufgrund der Proportionen nicht gelingen könne. Ich interviewte eine Schamanin: Sie meint, wir Menschen seien noch selbst- und konsumbezogener geworden. Selbst der Klimawandel habe keinen Wandel darin bewirkt. Die Natur und deren Weisheit müsse im Zentrum stehen, nicht der Mensch. Das meinte auch die Landschaftsgärtnerin, die das Artensterben sehr bedauerte. Ich besuchte eine Kommunikationswissenschaftlerin. Sie erklärte mir ausführlich, dass sie sehr optimistisch sei und ein gestiegenes Umwelt- und Selbstbewusstsein beobachte, dass unsere digitalen Möglichkeiten zu mehr Demokratie und Selbstbestimmung verhelfen könnten, allerdings auch zu deren Zusammenbruch. Sie verfolge mit, wie sich ein Wandel in Beziehungs- und Familiengestaltungen, Diversität und Genderfluidität, Akzeptanz des Älterwerdens, Gesundheits- und Klimabewusstsein, sowie Selbstoptimierung vollziehe.
Ich fragte einen Schriftsteller, der sich mit den indischen Schriften gut auskennt und er sagte: „Wir machen gesellschaftlich einen Schritt in Richtung geistige Umnachtung”, da die staatliche Kontrolle zu stark und die Demokratie in Gefahr sei. Meine 19jährige Tochter sagte: „Ich kann nicht darüber nachdenken” und mein Neffe (12): „Ich schau mal nach…” und wandte sich Google zu, womit das Gespräch beendet war. Ich fragte dann noch meine Eltern, die seit den 40ern des letzten Jahrtausends hier sind und beobachten, und sie sagten: „Wir kommen da nicht mehr mit”.
Content Inflation
Auf meiner langen Radtour über Stuttgart bis nach Darmstadt schaute ich mir die deutsche Welt an und sah mich oft entfremdet und desorientiert, was aber nicht nur an “komoot”, meinem Routenplaner, lag … Eine Yogini beobachtet, bewertet nicht. Meine Yogamatte war immer dabei, auch als Regendach. Die Praxis auch. Es war ungewöhnlich heiß für Mitte September und in den Nachrichten gab es Starkregen und Fluten da, wo es sonst immer trocken ist; Putin und China, wirtschaftlicher Niedergang, Rechtsradikale, Wahlplakate, die schnelles Internet wollen (ich radle an einer großen Moschee vorbei). Es ist Postpandemie, Digitalisierung, Entfremdung, Krieg, wirtschaftliche Inflation, Entwertung des Geldes, und eine Flut von content, nicht zu überblicken. Content Inflation.
Auf dem Mittelalterfest, an dem ich vorbeikomme, brüllt der Marktschreier, ich hätte meine Seele dem „leuchtenden Stein“ verkauft, als ich mein Handy, genau gesagt meine Navigations-App nach der günstigsten Route befragte. Witzig, dass gerade auch an dem Tag eine nationale Test-Katastrophenwarnung durchgeführt wurde. Mein „leuchtender Stein” blinkte und vibrierte wie wild, ferngesteuert. Eine Mischung aus erregtem Engagement und Gleichgültigkeit war in meiner Vier-Tages-Radl-Meditation spürbar. Ist das der Wandel? Wie kann Yoga diesen Wandel begleiten, fragte ich mich?
Ruhe und Stille, Stabilität und Rhythmus
Die individuelle, am besten regelmäßige Yogapraxis und Meditation bringt Ruhe und Stille, Stabilität und Rhythmus, in all dem Chaos. So können wir den Blick schärfen, zu unterscheiden, was wichtig ist und was nicht. Was geht in mir und meinem Körper vor? Was geht um mich herum vor? Wie ist die Luft? Das Licht? Die Energie? Die Stimmung? Wo ist meine Hilfe, mein Handeln gefragt? Was ist Maya-Illusion, was ist Essenz?
Es ist leicht, in Gemeinschaft zu leben
nach den Regeln der anderen.
Es ist ebenso leicht, zurückgezogen zu leben
nach den eigenen Vorstellungen.
Größe aber bezeugt, wer inmitten der Menge freundlich
die Unabhängigkeit des Einsamen bewahrt.
(Ralph Waldo Emerson)
Was sind alte oder neue gesellschaftliche oder social Media Normen und Regeln, denen ich mich bewusst oder unbewusst beuge? Kann ich in meiner Mitte bleiben? Auch das habe ich schon zu oft gehört.
Von welchem Yoga sprechen wir?
Ich erlebe den Begriff Yoga inflationär gebraucht, von seiner Essenz sich mehr und mehr entfernend. Das muss nicht sein. Nicht alles, was sich dehnt, gymnastisch biegt, ein langes Sanskrit-Wort daneben stehen hat und schicke Outfits anhat, ist Yoga. Von „Faszienyoga”, über „Bieryoga” zu „Emotionsyoga”, um nur einige zu nennen. Von welchem Yoga sprechen wir: Vom digital vermarkteten Kommerz-Yoga, vom Insta-Yoga, vom Retreat-Traumurlaub Yoga für das ultimative Tantra-Erlebnis im Fünf-Sterne Hotelbett in Bali? Von der knallharten täglichen, einsamen Sadhana-Disziplin in den ambrosischen Stunden oder dem stillen Sitzen in easy Pose? Vom Yoga-tainment vieler Yoga-Festivals, vom online yoga, von dem du dir einen Kurs gekauft hast (den du aber nur halb gemacht hast, weil du doch lieber draußen in der Natur bist oder weil er im Content-Wust ertrunken ist)?
Ist nicht jede tägliche Begegnung mit dir selbst - ob auf der Matte oder auf dem Klo eine Gelegenheit für achtsames Atmen, Innehalten, Aufrichtung und die eine oder andere Asana? Und ist nicht jede achtsame Begegnung mit Augenkontakt und echtem Zuhören eine lebensnotwendige Verbindung, die wir Menschen brauchen?
Yoga heißt Verbindung
Inflationäres Yoga heißt für mich, nicht mehr den wahren Wert wahrzunehmen, nur noch ein (gut verkäufliches?) Programm abzuspulen. „Größe aber bezeugt, wer inmitten der Menge freundlich die Unabhängigkeit des Einsamen bewahrt.” Weniger ist mehr. Immer wieder unterscheiden. Rückbesinnung und Rückholung der Sinne, Pratyahara, ein Teil des achtfachen Weges des Yoga scheint dringend angesagt. Wenn damit der Wandel begleitet wird, dann können sich vielleicht auch ungeahnte Potenziale entfalten.
Mit der Digitalen Gottheit Google (allwissend, wenngleich nur gerade mal 25 Jahre alt geworden) - haben wir da nicht auch potentiell Zugang zur Akasha Chronik? Ich hoffe, das yogische Wissen gibt Halt im sich zum Metaverse entwickelnden Szenario.
Was gerade passiert, es könnte Trennung und Abspaltung sein. Auf vielen Ebenen. Yoga heißt Verbindung. Inmitten der Menge. Freundlich. Unabhängig. Den wahren Wert der Inflation entgegenhalten.
Tiaga Seva Kaur Renate ist Psychologin und Heilpraktikerin auf dem Gebiet der Psychotherapie. Sie leitet Retreats in Deutschland, Österreich und Spanien.
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