Bewusstseinsstörungen
- yogatiagaseva
- 14. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Welche Bewusstseinsstörungen des Körpers gibt es?
In seinem Büchlein “Vom Gehirn zum Bewusstsein” schreibt Neurophysiologe Wolf Singer: “Bei der Erforschung des Gehirns betrachtet sich ein kognitives System im Spiegel seiner Selbst. Es verschmelzen also Erklärendes und das zu Erklärende”.
Wer erklärt? Wer nimmt wahr? Der Körper? Oder der “Geist”? Das Herz?
Wer interpretiert die Wahrnehmungen? Wer ist sich seiner selbst bewusst? Und was, bitte schön geschieht, wenn dieses Bewusstsein gestört ist? Was hat yogisches Bewußtsein, welches wir durch Mediation anstreben, mit Körperbewusstsein zu tun?
Bewusstsein und -werden hat viele schillernde Facetten von inneren Zuständen der Wachheit, Luzidität, also innerer Be- (oder Er?)leuchtung. Die Frage nach diesen inneren Zuständen übertritt alle Grenzen, besonders die jahrhundertealte im Westen gepflegte Grenze zwischen Soma (Körper) und Psyche.
Sie ist eine zentraler Aspekt des Yoga, das sich als Vereiningung mit dem höchsten Bewusstsein versteht.
Dass diese eine “untrennbare Einheit” (Gerald Hüther, S. 78) bilden, ist nun in der Psychosomatik und Neurowissenschaft immer mehr erforscht und bestätigt.
In der Psychotherapie sprechen wir gerne vom Un- und Unterbewussten und Vorbewussten, das es bewusst zu machen, ins Licht zu holen gilt, damit es uns nicht zu Handlungen und Gefühlen motiviert, die schaden könnten. Also Bewusstsein wie ein Licht, das man entweder anknipst oder ausschaltet? Eher lässt sich dieses innere Beleuchtungsphänomen, mit dem ich das Anwachsen von Bewusstsein gleichsetze, eher als einen Dimmschalter mit unendlich feinen Abstufungen und auch einem unendlich großen Radius vorstellen; inklusive und außerhalb der Sprache.
Bewusstsein ist ein Erfahrungszustand von Wissen und Wahrnehmung, in der Stille oder im Lärm, ganz egal. Adyshanti nennt es in seiner 30 Day-Wakeup challenge “the formless sense of self”, das das Individuum mit dem grossen SELBST verbinden kann.
Hat nun der Körper Bewusstsein? Oder ist sich der erwachte “mind” (Geist/Psyche) seines Körpers bewusst? In welche Richtung geht es?
In beide.
Das neue Schlagwort ist hier “Embodiment”, gegenseitige und nicht trennbare Beeinflussung von Psyche und Soma. Unser Körper funktioniert wunderbar, meist, ganz autonom und ohne, dass wir uns dessen bewusst sind, was die Organe machen, wie die Hormone reguliert werden und welche Aktionspotentiale gerade unsere Nervenbahnen elektrisieren. Er spiegelt durch seine Haltung, Stimme, Gestik, Mimik, unser Verhalten unsere Gefühle wieder. Unsere Atmung ist ein direkter Ausdruck unserer Psychosomatik. Übrigens ist der Atem deswegen so faszinierend, weil er in der Schnittstelle von Bewußtem und Unbewussten liegt: Er funktioniert autonom-vorbewusst und doch können wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken und ihn auch willentlich steuern, z.:b verlängern, anhalten etc., was wir in den Pranayamas ja genau machen. Damit verschaffen wir uns ein gesteuertes Körperbewusstsein, sozusagen eine Balance zwischen dem Bewusst-Willentlichem und dem Unbewusst-Autopiloten.
Ist diese Balance das angestrebte, gesunde Maß an Körperbewusstsein? Wo beide Richtungen der Wahrnehmung aktiv sind? Und folglich läge dann eine Störung vor, wenn diese Balance nicht mehr gegeben ist?
Wieviel des Unbewussten im Bewussten ist denn gut und hilfreich? Wir können nicht immer und ständig alle autonomen Funktionen, die in psycho-physio-neuro- und sozialen Feld passieren, passiert sind (also alle Erinnerungen) bewusst im Hier und Jetzt haben, da würden wir absolut überfordert sein und die Sicherungen durchbrennen. Wie steuern wir diesen Selektionsprozess? Die Neurowissenschaft bringt Areale wie die Amygdala ins Spiel, aber noch viele andere.
Gestört ist unser Körperbewusstsein wenn die Selektion gestört ist, meist, indem wir uns selbst zu wenig, das außen zu stark wahrnehmen, dann unsere Grenzen überschreiten. Im Teacher Training Manual der Stufe 1 steht: “Jeder Körper hat eine Kapazität. Jeder Geist hat eine Frequenz. Du musst die beiden zusammenbringen, und dann musst du herausfinden, wer du bist. Das ist der einfachste Weg, um glücklich zu leben.” Oft sehe ich uns im Kundalini Yoga diese Grenzen nicht respektvoll wahren, sondern gegen sie anzudrücken oder sie gänzlich zu ignorieren in einem falsch verstanden, toxischen Ehrgeiz. Das würde ich als Störung dieses Erleuchtungsprozesses bezeichnen: Der Körper kommuniziert, und der mind sagt: “egal, weiter machen!”.
Jegliche Form der Missachtung von Meldungen des muskulo-skeletal-neuronalen Systems, von Gefühlen und Körperempfindungen kann streng genommen als eine
“Störung des Bewusstseins” gesehen werden. Es geschieht im Dienste von Zielen, die nicht im Körper, sondern eher im mind liegen, eine Abspaltung: Überfordernde, besonders unangenehme bis unerträgliche Gefühle oder Empfindungen werden von der inneren Wahrnehmung abgetrennt. Das ist besonders bei zu starken und sehr überwältigenden, überraschenden Eindrücken so, die wir dann (natürlich unbewusst) als Traumen fixieren, sie ins Unbewusste abdrängen und damit ein Funktionieren im Alltag weiter gewährleistet ist, jedenfalls für eine gewisse Zeit oder bis sie “getriggert” werden. Im Extremfall kommt es dann zur Dissoziation, also völligen Abgetrenntheit und “Geistesabwesenheit”, von der der/die Betroffene manchmal nur mit fremder Hilfe zurückkommt.
Das Abspalten in milder Form macht eigentlich jede*r, denn sonst können wir in einer Welt voller Reize nicht durchkommen. Die Frage ist nur, wie sehr der Lichtschalter abgedimmt ist und wie lange. Wir Yogis arbeiten so sehr daran, den Schalter immer schön auf hell zu halten, aber das ist sehr anstrengend. Wir dimmen uns herunter, damit wir überhaupt als Alltagsmensch in der U-Bahn fahren oder einkaufen oder in der Arbeit tausend Dinge machen können. Auch hier eine Störung, ein Abdämpfen der Körperwahrnehmungen?
Wenn ein Mensch sich zu sehr auf seine Körpermeldungen fokussiert, sei es Hunger, Bewegungs- oder Ruhedrang, Schmerzen, Auffälligkeiten wie Schwitzen oder Erröten, inneren Prozesse, können wiederum psychisch bedingte Störungen erste entstehen, z.B. Essstörungen, Ängste. Aber auch Phänomene wie Kribbeln, Zucken, Vibrieren, Kitzeln, Lichter, Farben, Wärme, Empfindung von Elektrizität, Wahrnehmung von Auren oder Energiekörper oder fliessender Energie im Körper oder der Wirbelsäule entlang während der Meditation können so sehr in den Fokus geraten, dass wir sie herbeizuführen suchen, uns Autosuggestiv darin bestärken oder nicht mehr von ihrer Wahrnehmung loskommen. Hier ist es dann nicht mehr weit zum sogenannten psychotischen Erleben, z.B. Stimmenhören, Halluzinationen, Wahnhaftes. Gerade die Erweckung der Kundalini Energie kann solche Destabilisationene in einem ansonsten nicht gefestigten System bewirken. Aber auch mildere Formen der gestörten Wahrnehmung seines eigenen Körpers (z.B als sehr dick oder sehr dünn) können massive Abweichungen von den realen Körperdimensionen sein. Das nennt man dann eine Körperschemastörung, die oft bei Anorexie oder auch Adipositas anzutreffen ist.
Bewusstseinsstörungen des Körpers können übertrieben bis zu pathologische Form annehmen, wenn der Fokus dauerhaft zu stark auf nur einzelnen Wahrnehmungen liegt, z.B. auf die Größe oder Form eines Körperteiles, wie etwa die Brüste, Haare, Augen. Daraus können sich dann Obsessionen oder auch Selbstabwertungen entwickeln.
Eine weite Form der Aufmerksamkeit mit gleichzeitigem Fokus, das wäre ideal.
Ein interessantes Spannungsfeld von achtsamen So-sein-Lassen und neutralem Wahrnehmen versus dem Steuern, Timen und Manipulieren, das wir im Kundalini Yoga sehr oft machen. Ich lade uns ein, dies zu hinterfragen und ganz genau hinzuspüren.
In der Bhagavat Gita spricht Krishna über das reine Bewusstsein (purusha):
“Dieser Körper, Arjuna, wird kshetra genannt, das Feld. Und der Mensch, dessen Geist das Feld erfährt, heisst kshetrajna, der Kenner des Feldes. Wisse, dass ich alle Felder kenne. Das Wissen über das Feld und den, der es erfährt, ist das wichtigste Wissen überhaupt. Diese Aspekte bilden das Feld: die fünf großen Elemente, Ahamkara, das Ich, Buddhi, die Intelligenz, die nicht manifeste Urnatur, die zehn Fähigkeiten des Wahrnehmens und Handelns, Manas, das Denken und Fühlen sowie die fünf Objekte der Sinne. Auf diesem Feld erscheinen Wollen und Nichtwollen, Freud und Leid, Körper, Bewusstsein und Wille. S. 173 in Ralph Skuban, Psychologie des Yoga
Quellen
Wolf Singer, Vom Gehirn zum Bewußtsein Suhrkamp 2006
Gerald Hüther, “Wie Embodiment neurobiologisch erklärt werden kann” in: Embodiment Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Hogrefe 2017
Adyshanti 30 Day Wake up challenge audible 2020
Bhagavat Gita in Ralph Skuban, Die Psychologie des Yoga
Veröffentlicht im Kundalini Yoga Journal 12,2021, S. 12-13
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